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Die Pränatalzeit und die Entwicklung der Myelinisierung

Urvertrauen ist kein abstraktes Gefühl, sondern ein biologischer Zustand. Die Entwicklung der Myelinschicht bildet die materielle Grundlage für Sicherheit, Energiefluss und Kontaktfähigkeit. In der körperorientierten Traumatherapie und der NSTI®-Methode bedeutet das: Jeder Moment von rhythmischer Ko-Regulation – durch Atem, Stimme oder Berührung – stärkt die neuronale Basis für das Empfinden von „Ich bin da. Ich bin sicher.“

Die ersten Lebensmonate bilden das unsichtbare Fundament für das Erleben von Sicherheit und Dasein. Noch bevor ein Kind bewusst wahrnimmt, was „Ich“ bedeutet, formt sich in seinem Nervensystem ein tiefes Gefühl von Kontinuität und Zugehörigkeit.Diese frühkindliche Existenzphase – von der pränatalen Zeit bis etwa zum dritten Lebensmonat – prägt die Fähigkeit, Reize zu halten, Energie zu regulieren und Beziehung als sicher zu erleben.

In der körperorientierten Traumatherapie, im Somatic Experiencing® oder in der Neurosomatischen Traumaintegration NSTI® zeigt sich, wie diese frühen Erfahrungen bis ins Erwachsenenalter wirken: Sie bestimmen, wie gut wir mit Stress, Nähe und innerer Spannung umgehen können.

Neurobiologischer Hintergrund – Myelin als Basis der Selbstregulation

Myelin ist die schützende Hülle der Nervenfasern. Es ermöglicht, dass Nervenimpulse rasch und störungsfrei weitergeleitet werden – die Grundlage für emotionale Stabilität, Körperwahrnehmung und Selbstregulation.

Bereits zwischen der 8. und 12. Schwangerschaftswoche entwickeln sich die ersten Oligodendrozyten-Vorläuferzellen. Ab der 24. Woche entstehen im Hirnstamm und Rückenmark erste Myelinscheiden. Im letzten Trimenon folgt eine regelrechte „Genexpressions-Explosion“, die das Wachstum der weissen Substanz vorbereitet.

Nach der Geburt verläuft die Myelinisierung mit hoher Geschwindigkeit weiter. Innerhalb des ersten Lebensjahres verdichtet sich die weisse Substanz rasant – ein Prozess, der eng mit der Entwicklung von sensorischer Integration, motorischer Kontrolle und emotionaler Regulation verknüpft ist (Fields, 2008; Deoni et al., 2012).

Hormone, Ernährung und emotionale Milieus – Myelinbildung im Kontext von Beziehung und Sicherheit

Die Myelinisierung wird von einer Vielzahl biologischer und emotionaler Faktoren beeinflusst:

  • Schilddrüsenhormone (T3/T4) fördern die Reifung der Oligodendrozyten.

  • IGF-1 (Insulin-like Growth Factor 1) stimuliert die Bildung von Myelinproteinen.

  • DHA, eine Omega-3-Fettsäure, unterstützt den Aufbau der Myelinmembranen.

  • Oxytocin und Prolaktin schaffen ein parasympathisch reguliertes, ruhiges Milieu – essenziell für neuronale Reifung.

  • Entzündungsarme Zustände halten Mikroglia und Astrozyten in Balance und fördern Regeneration.

Damit zeigt sich: Bindung, Ernährung und hormonelle Regulation wirken direkt auf die neuronale Stabilität. Ein sicher gebundener, rhythmischer Kontakt in der frühen Entwicklung ist neurobiologisch messbar – er beeinflusst die Bildung von Myelin und somit die spätere Stressresilienz.

Stress und die Verletzlichkeit der frühen Phase

Pränataler Stress – etwa durch Angst, Isolation oder Überforderung – führt zu erhöhten Spiegeln von CRH und Kortisol. Diese Stresshormone hemmen die Differenzierung von Oligodendrozyten und können die Myelinisierung verzögern.

Studien zeigen: Früh gestörter Myelinaufbau korreliert mit erhöhter Stressvulnerabilität, Reizoffenheit und Schwierigkeiten im Energiemanagement (Bock et al., 2015; Sandman et al., 2015). Das Nervensystem reagiert dann empfindlicher auf äussere Reize – ein Phänomen, das in der Traumatherapie häufig als „dünnes Nervenkostüm“ beschrieben wird und sich in Themen wie Hochsensibilität zeigt.

NSTI®-Perspektive – Energiemanagement, Containment und Embodiment

Aus Sicht der Neurosomatischen Traumaintegration NSTI® ist die Myelinisierung Ausdruck der Fähigkeit, Energie in Verbindung zu halten – ein zentraler Aspekt in der Arbeit mit Entwicklungs- und Bindungstrauma.

Das „Ich darf da sein“ entsteht nicht nur psychologisch, sondern neurophysiologisch: Ein gut myelinisiertes Nervensystem ermöglicht energetische Leitfähigkeit, emotionale Erdung und Resonanzfähigkeit.

Rhythmische Berührung, Atemarbeit und fein abgestimmte Körperwahrnehmung – zentrale Elemente der körperorientierten Traumatherapie – unterstützen den Aufbau dieser neuronalen Stabilität. Sicherheit wird so nicht gelernt, sondern verkörpert (Embodiment).

Praxis und Anwendung in der körperorientierten Traumaarbeit

In der Praxis bedeutet das, frühe Regulationsmuster auch körperlich zu begleiten. Fachpersonen aus Traumatherapie, Körperpsychotherapie oder somatischer Pädagogik können Klient:innen darin unterstützen, über Atemrhythmus, Gewebetonus und Kontaktfähigkeit zu einer stabileren Selbstregulation zu finden.

Die Arbeit an frühen Schichten der Wahrnehmung – das Spüren von Halt, Schwerkraft und Atemfluss – unterstützt die neuronale Integration. Damit wird die Myelinisierung nicht direkt beeinflusst, aber die Bedingungen, unter denen sie sich entfalten konnte, werden somatisch „nachgenährt“.

Urvertrauen als biologischer Zustand

Urvertrauen ist kein abstraktes Gefühl, sondern ein biologischer Zustand. Die Entwicklung der Myelinschicht bildet die materielle Grundlage für Sicherheit, Energiefluss und Kontaktfähigkeit.In der körperorientierten Traumatherapie und der NSTI®-Methode bedeutet das: Jeder Moment von rhythmischer Ko-Regulation – durch Atem, Stimme oder Berührung – stärkt die neuronale Basis für das Empfinden von „Ich bin da. Ich bin sicher.“


Quellen

  • Fields, R.D. (2008). White matter in learning, cognition and psychiatric disorders. Trends in Neurosciences, 31(7), 361–370.

  • Deoni, S.C.L. et al. (2012). The development of human white matter from mid-fetal to adulthood: A magnetic resonance imaging study. NeuroImage, 60(1), 568–582.

  • Bock, J., Wainstock, T., Braun, K., & Segal, M. (2015). Stress in utero: Prenatal stress effects on the developing brain. Developmental Psychobiology, 57(6).

  • Sandman, C.A., Davis, E.P., & Glynn, L.M. (2015). Prescient human fetuses thrive. Developmental Psychobiology, 57(8).

  • Schore, A.N. (2019). Right Brain Psychotherapy. Norton.

  • Porges, S.W. (2011). The Polyvagal Theory. Norton.

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